Viel wusste ich noch nicht, nachdem ich im Juli mein Abitur an der Waldorfschule gemacht hatte.
Doch weil ich nach der intensiv theoretischen Arbeit ein starkes Bedürfnis nach praktischer Be- oder Entlastung (wohl beides) hatte, nahm ich eine auf www.zalp.ch inserierte Hirtenstelle in der Schweiz an.
Dass die Schweizer gute Uhren und Taschenmesser bauen und in bunten Kostümen den Pabst im Vatikan bewachen, wusste ich. Und dass Papa gefühlt ständig dort hinfährt um Käsekessel und Butterfässer zu kaufen.
Nun denn, nach einer langen Fahrt fand ich mich in einem mit Milchkannen beladenen Geländejeep neben Bernadette, der Älplerin, auf einem steilen Weg in Richtung Breccaschlund wieder.
In der Stube der Alphütte saßen viele Schweizer zum Kaffee, welche mich alle freudig begrüßten, was ich am Tonfall erkannte, denn ich verstand kein einziges Wort. Ich nahm auch einen „Kaffee fertig“ und versuchte, mein Erstaunen über den Schnaps mit Kaffeegeschmack, als der er sich entpuppte, unbemerkt zu lassen.
Der Ausblick war wunderschön. Die Nachmittagssonne strahlte gegen den Westhang der Spitzfluh, die Ziegen waren kleine weiße Punkte an den steinigen Hängen und das dumpfe Läuten der Almglocken weckte alte Erinnerungen an Almbesuche mit Mama und Papa in der dritten Klasse, bei denen wir auf dem Rückweg natürlich nicht versäumten, einen Käsekessel und ein Butterfass zu importieren. Ich wollte kurz nach Hause schreiben, dass ich gut angekommen war, doch ich hatte keinen Empfang. Ich würde mich hier wohlfühlen.
Gegenüber der großen Alphütte stand der Schopf (ein Schuppen) in welcher voller Stolz die großen Alpabtriebsglocken mit den Initialien der Familienmitglieder hingen. Unser Dach teilten wir mit zehn Ziegen, dreizehn Simmentaler Kühen, welche Bernadettes Mann Armin am Klang der Glocken erkannte, drei Pferden und dem Moni (der Bulle). Außerdem gab es noch sechs Hühner, fünf Kaninchen, die Hunde Rico und Luna, die Katze, den Geißbock und vier Schweine die den Sommer über mit Essensresten und Molke verwöhnt wurden und im Sommer darauf die beste hausgemachte Bratwurst boten, die ich je gegessen habe.
Bernadette und Armin standen um halb fünf zum Melken auf. Die lauten Glocken der ungeduldig in die Anbindung laufenden Kühe erinnerten mich daran, dass ich in einer Stunde aufstehen, Holz holen und Feuer machen, Rico begrüßen, noch warme Milch abschöpfen und schließlich Frühstück machen würde. Danach machte ich die Ställe sauber und machte mich wanderfertig, um die insgesamt 74 Rinder zu zählen, welche die Bauern aus dem Tal auf unsere Alp gegeben hatten.
Die Weiden waren groß, weitläufig und die Höhenmeter wollten nicht unterschätzt bleiben. Rico und ich waren oft drei Stunden unterwegs. Ich sammelte Blumen und er Stöcker, die ich dann werfen sollte, zusammen beobachteten wir die Gämsen, welche leichtfüßig schnell die Hänge bewältigten, die ich mir mühsam erkämpft hatte.
Ganz oben am Steilhang war ein Adlerhorst. Die Schreie des hungrigen jungen Adlers hallten durch den Breccaschlund.
Der Sommer in der Schweiz war dieses Jahr insgesamt sehr schlecht. Kälte und Regen hinderten die Bauern im Tal daran, das Heu einzubringen. Das Gras wuchs schlechter und die Tiere auf der Alp hatten wenig Futter, weshalb die Rinder in die steileren Hänge kletterten um dort zu Fressen, was jedoch viel gefährlicher war. Die REGA flog 38% mehr Steinschlags- und Absturzopfer (Menschen und Tiere) als im Vorjahr ins Tal. Auch wir hatten zwei verunglückte Rinder.
Der Adler wird es ebenfalls schwerer gehabt haben, genug Beute für das Junge zu finden. Doch Ende August flog er aus, er hat es geschafft.
Nachmittags half ich oft beim Servieren. Wir hatten eine kleine Jausenstation mit verschiedensten Getränken und ein paar Gerichten wie Hobelkäse, hausgemachtem Geißenchääs (Ziegenkäse) mit Brot, Bratwurscht und Fondue, welche sich die vorbeikommenden Wanderer schmecken ließen.
Oft kamen abends auch Bauern und Bekannte aus dem Tal zum Fondue mit Weißwein. Ich habe in dieser Zeit überhaupt sehr viel Fondue gegessen. Als ich anmerkte, ob denn 700g Käse zum Abend so gesund sind, meinte Markus, dass ein richtiger Schweizer mindestens hundert Kilo auf die Waage bringen müsse und ich es bisher ja gerade mal zu nem halben bringen würde. Ich wurde kräftig aber herzlich ausgelacht und ließ es mir wieder schmecken.
Wenn Armin mit den alten Bauern sprach, habe ich auch bis zum Schluss nichts verstanden. Ansonsten wurde mein Schwyzerdütsch aber zunehmend besser auch wenn ich im Café gefragt wurde, seit wann die französische Schweiz denn so gutes Hochdeutsch unterrichten würde.
Abends holte ich die Kühe oder fing schon an die Ziegen zu melken, welche immer pünktlich von selbst nach Hause kamen. Sie durften überall fressen wo sie wollten, die Zäune waren lediglich großviehsicher.
Jede Kuh hatte ihren eigenen Platz im Stall. Während Armin molk habe ich die Kühe gestriegelt und Bernadette hat den Kühen die Schwänze gewaschen. Mit warmem Wasser, Seife und danach kaltem Wasser. Ich hätte mich nicht gewundert, sie danach mit einem Föhn zu sehen, aber das Trocknen übernahmen die Kühe selbst, indem sie mit viel Schwung die Schwänze von der einen zur anderen Seite schlugen und dabei nicht selten mein Gesicht trafen. War ich als erste fertig, fing ich an die Schwänze mit einer Haarbüste zu kämmen. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages ließen die Schwanzenden in einem Goldblond erleuchten, wie nur Prinzessinnen es tragen. Vom Läuten ihrer Glocken begleitet verließen sie stolz ihren Stall. Bernadette konnte nicht glauben, dass es bei uns eher üblich ist, die Schwanzhaare zu kürzen. Auf den Viehausstellungen (und davon gibt es viele in der Schweiz) ist eine volle Haarpracht mindestens genau so wichtig wie schön gewachsene Hörner. Teilweise würden sogar Toupets getragen.
Die Tage und Wochen verflogen und ich genoss das Alpleben, lernte viele liebenswerte Menschen kennen, vermisste weder Handy noch PC doch hätte es etwas wärmer sein können. Ende August war morgens das Gras auf der Weide gefroren, während es zuhause noch angenehme 23°C waren.
Dann irgendwann war es soweit. Klaus kam ein paar Tage früher um mich abzuholen und noch etwas Alpleben mitzubekommen. Zur Feier des Tages machten wir Fondue und am Tag darauf war ein großes Festmahl für alle Helfer und Freunde. Es gab einen ganzen Schinken vom eigenen Schwein, welcher gesalzen und in einen Brotteig gehüllt, neun Stunden im Ofen der Dorfbäckerei Plaffeien gegart wurde. Er war köstlich.
Es fiel mir schwer Abschied zu nehmen, aber ich habe viele schöne Erinnerungen behalten und teile gerne einige mit euch. Ich weiß jetzt, dass das Gerücht „ein Schweizer läuft immer mit seinem Schweizer Taschenmesser herum“ wirklich wahr ist (zumindest unter Bauern), dass Schwingen der beliebteste Sport ist und der Gewinner des Eidgenössischen Schwingfestes einen Zuchtbullen erhält. Dass das Edelweiss-Hemd zu jedem Anlass mit Stolz getragen wird und dass jedes Tal einen etwas anderen Dialekt spricht. Ausserdem, dass der 1.August der schweizer Nationalfeiertag ist, an welchem alles in Rot und Weiss geschmückt wird, die Trachten getragen werden und ein Feuerwerk losgelassen wird, was an Lautstärke bisher alles übertroffen hat, was ich gehört habe, da die Berge mit einem gewaltigen Echo antworten.
Auf dem Rückweg haben wir natürlich nicht versäumt, in Chur noch ein Butterfass und zwei Käsekessel zu kaufen… nur ganz kleine..
Carla Tenthoff
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